Was uns Menschen unterscheidet, muss uns noch lange nicht trennen!
Der Volkstrauertag wurde 1919 – ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – eingeführt. Nicht „befohlene“ Trauer, sondern die Solidarität mit den Hinterbliebenen der Gefallenen war das Motiv. Der Erste Weltkrieg war gerade erst beendet, aber die Ausmaße des Krieges und das Leid, welches er mit sich bringt, hielten an. Kinder, Ehefrauen und Eltern, warteten bange und lebten mit der Angst, ob ihre Liebsten je den Weg nach Hause finden würden. Der Krieg hinterlässt tiefe Wunden in Seele und Geist. Er verfolgt seine Opfer mit Alpträumen und Ängsten auch Jahre und Jahrzehnte später. Die Wunden des Krieges waren längst noch nicht verheilt, da ergriffen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Ihr menschenverachtendes Handeln führte erneut zu Kriegsopfern auf der ganzen Welt. In beiden Weltkriegen ließen weltweit 120 Millionen Menschen ihr Leben. 120 Millionen Opfer bei den Streitkräften und in der Zivilbevölkerung.
Erinnerung heute
Wir erinnern uns heute an die getöteten Soldaten und Zivilisten des ersten Weltkriegs und des zweiten Weltkrieges; wir erinnern an Menschen, die in der Gefangenschaft oder auf der Flucht umkamen; wir gedenken der Männer und Frauen, die ihren Widerstand gegen die Nazidiktatur mit ihrem Leben zahlen mussten; wir erinnern an Mitbürgerinnen und Mitbürger, die verfolgt und vernichtet wurden, weil sie als Juden, Kranke, körperlich oder geistig beeinträchtigte oder Mitglieder ethnischer Minderheiten nicht in das unmenschliche, rassistische Bild der Nationalsozialisten passten.
Was bedeutet der Volkstrauertag heute?
Ich bin überzeugt, dass die Geschichte eine Chance für alldiejenigen ist, die – zum Glück – in ihrem Leben keinen Krieg erlebt haben. Das Gedenken an die Opfer hilft uns zu lernen und zu begreifen, wozu Menschen fähig sind. Das Innehalten, das Gedenken an die Millionen Menschen, die ihr Leben verloren haben und das Gedenken an die Millionen Menschen, die einen Familienangehörigen im Krieg verloren haben, hilft uns die Folgen und Ausmaße eines Krieges zu verstehen.
Der Volkstrauertag heute ist auch ein Tag der Mahnung. Es ist ein Aufruf an uns zur Versöhnung. Es ist ein Aufruf an uns für Verstehen, Verständnis und Verständigung. Denn Verstehen und Verständnis – das sind die Schritte auf dem langen, nie endenden Weg zu Versöhnung, Verständigung und Frieden. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Blicken wir auf unsere Welt heute, dann hören und lesen wir über bewaffnete Konflikte, Auseinandersetzungen und Kriege in vielen Ländern unserer Welt. Dort gelingt es nicht, dass Menschen einander verstehen. Das alles scheint oft weit weg, aber auch bei uns in Deutschland nimmt in diesen Tagen die Sorge – auch meine persönliche Sorge – über das gesellschaftliche Miteinander zu. Kaum ein Tag vergeht ohne Anfeindungen, Angriffe und Beleidigungen bis hin zu perfiden Morddrohungen gegenüber Andersdenkenden. In jüngster Vergangenheit haben uns die Anschläge von Hanau, Halle, Dresden, Nizza und Wien vor Augen geführt, zu welchen Taten Extremismus führt.
Der Volkstrauertag – ein Aufruf an uns alle
Wir erleben, dass sich die Sprache verändert und wir erleben, dass Menschen, die Hass und Hetze verbreiten, durch das Land ziehen. Am Anfang aller Taten stehen Worte, die Gewalt heraufbeschwören. Wir haben in unserer Geschichte gesehen, wozu Hass, Gewalt und Aggressivität führen können, wenn wir nicht vorher für Frieden, Freiheit und Demokratie einstehen. Daher müssen wir alle uns fragen: Lassen wir das zu? Der Volkstrauertag heute ist somit auch ein Aufruf unsere eigene Haltung zu überdenken. Den jeder Hass, jeder Ausdruck von Hetze braucht mutige, entschlossene Menschen, die sich dem entgegenstellen. Wir sind für ein friedvolles und soziales Miteinander verantwortlich. Achtung und Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen unabhängig von ethnischer Herkunft oder persönlichen Weltanschauungen sind entscheidend.
Was können wir im Kleinen tun?
Für andere einstehen, wenn wir Gewalt und Hetze erleben, eingreifen wenn wir sehen das Bürgerrechte missachtet werden, handeln wenn einzelne Bevölkerungsgruppen zur Zielscheibe werden. Unser Mut, unsere Entschlossenheit, unsere Haltung ist entscheidend für das gesellschaftliche Zusammenleben! Was uns eint ist das Hoffen, keinen Krieg erleben zu müssen und der Wunsch, dass wir gemeinsam standhaft bleiben gegenüber den Hetzern dieser Tage. Setzen wir uns ein für eine Gesellschaft, die über Grenzen hinweg von Toleranz, gegenseitiger Achtung und Menschlichkeit geprägt ist. Denn: Das, was uns Menschen unterscheidet, muss uns noch lange nicht trennen!
Anmerkung: Das Bild ist im vergangenen Jahr bei der Kranzniederlegung entstanden.